Es ist nicht etwas
2 Kusen von Roland Yuno Rech I Sesshin von Saint Laurent du Verdon, März 2017
Ich weiß es nicht
Während eines Sesshins trennen wir uns von unseren Alltagsgeschäften und konzentrieren uns auf die Praxis des Zazen. Wir konzentrieren uns genauso auf alle anderen Tätigkeiten in Einheit mit Zazen, so dass eine kontinuierliche Praxis entsteht, die man „gyoji“ nennt, eine Praxis, die alles umfasst und niemals endet.
Sich so zu konzentrieren führt zu einer Bewusstwerdung aller Dinge, die uns bewegen. Anstatt auf sie einzuwirken, betrachten wir sie bloß. Zazen wird zu einem großen Spiegel, in dem sich alles Geistige widerspiegelt, zumal der Geist der Unterscheidung, der beurteilt, unterdrückt, verdrängt, zurückweist, was man nicht mag, was man für schlecht hält, während er an das anhaftet, was er mag, was er gut findet, aufgehoben ist. Diese Funktionsweise unseres Geistes ist wie ausgesetzt, die gewöhnliche Verkettung unserer Gedanken unterbrochen. Da man sie nicht bewegt, konditionieren sie uns nicht mehr; da wir sie bloß beobachten, können wir ihre wahre Natur erkennen.
Diese Gedanken, diese Empfindungen, diese Emotionen stammen von mir, es ist nicht jemand anderes, der in meinem Kopf denkt, wie es manchmal geistig Behinderte glauben, aber obgleich all diese geistigen Produkte, all diese Gedanken von mir stammen, so bin ich doch nicht diese Gedanken. Der weite Geist umfasst sie, spiegelt sie wider, identifiziert sich aber nicht mit ihnen. Das erlaubt uns, wirklich vertraut mit uns selber werden, aber immer realisierend, dass das Selbst niemals dasselbe ist, dass es sich ständig verändert. Natürlich haben wir unsere Gewohnheiten, unseren Charakter, unsere Persönlichkeit, was wir manchmal das „Ich“ nennen, aber das ist nicht etwas Substantielles. Das zu verstehen, ist schon ein wichtiges Erwachen: Ich bin nicht etwas.
Ein Schriftsteller hatte geschrieben: „Die Hölle, das sind die anderen“, die anderen, wenn sie uns in ihr Urteil einsperren, in ihre Meinungen, das geschieht übrigens häufig in Gruppen, dass man Leute katalogisiert: Wenn jemand neu in eine Gruppe kommt, sieht man nicht die Person selbst, sondern das Bild, das man sich von ihr macht. Zum Glück ist dieses Bild falsch, wir sind kein Bild, wir sind nicht irgendetwas, nichts Festes, nichts Begrenztes, nichts, das man definieren könnte. Zazen lässt uns die unendliche Natur unserer Existenz entdecken, was für uns machmal dessen Geheimnis ausmacht.
Als der Kaiser Bodhidharma fragte: „Wer seid Ihr, dort, mir gegenüber?“ antwortete Bodhidharma: „Fu shiki“, ich weiß es nicht.
Die Menschen, die meinen sich selbst zu kennen, unterliegen einer Illusion. Natürlich kann man einige Charakteristika feststellen, man kann die Verkettung unseres Karmas sehen, aber das genügt nicht, uns zu definieren, denn wir sind undefinierbar, eine Art Energie, die sich ständig verändert im Kontakt mit unserer Umgebung, den anderen, den Begegnungen, dem Leben. Zazen macht uns dies bewusst und hilft besonders dabei, uns damit zu harmonisieren, das heißt, dass wir einen Geist realisieren, der auf nichts verweilt, der immer neu ist und wieder kreativ werden und aufhören kann immer dieselben Szenarios zu wiederholen wie Maschinen.
An einem Sesshin teilzunehmen, bedeutet, dass man aufhört, mechanisch zu leben, so wie die Gesellschaft uns funktionieren lässt, was ja viel einfacher ist! Die Leute werden katalogisiert, auf Posten gestellt, und man erwartet, dass sie immer in der gleichen Weise reagieren und funktionieren. Aber das Leben ist immer neu, einfach weil es in völliger gegenseitiger Abhängigkeit besteht mit sämtlichen anderen Existenzen des Universums, und weil allesim Universum in Bewegung ist, besonders in den Lebewesen und also in uns selber, alles ist Bewegung, was uns erlaubt uns weiterzuentwickeln, uns zu verändern und nicht in Illusionen zu verharren.
Wenn unser Ego etwas Festes, Beständiges wäre, könnten wir niemals erwachen, uns befreien. Aber glücklicherweise ist es nicht so, Zazen hilft uns dabei, das zu entdecken, ein kreatives Leben wiederzufinden, das nicht irgendetwas Beliebiges auf die eine oder andere Art erschafft, sondern das Erwachen zu unserer eigentlichen Natur verwirklicht, denn auch wenn wir nicht irgendetwas sind, so sind wir doch Buddha-Natur, ein Leben in Einigkeit mit allen Wesen.
Und das aktualisieren wir, indem wir Solidarität mit den Lebewesen, den fühlenden Wesen üben und sie zur Basis aller Werte werden zu lassen, die unser Leben erfüllen. Erwachen ist Weisheit, das Sesshin ermöglicht es uns, Erwachen durch Mitgefühl auszudrücken, das können wir in einem Sesshin verwirklichen, aktualisieren.
Deshalb sagte Dogen: „Das Buddhadharma bedeutet, sich selbst zu kennen, aber sich selbst zu kennen, bedeutet, sich selbst zu vergessen und durch alle Wesen erwacht zu sein“, in unserer wahren Einheit mit allen Wesen zu leben.
Die Buddha-Natur ist kein Objekt
Während des Zazen konzentriert euch weiterhin gut auf eure Haltung und achtet auf eure Atmung.
Lasst den Geist nicht in euren Gedanken stagnieren, lasst sie vorbeiziehen. Beim Zazen sitzt man einer Wand gegenüber und unsere Aufmerksamkeit ist ins Innere gerichtet, zu unserem Selbst. Ein Sesshin bedeutet, dass man vollständig vertraut mit seinem eigentlichen Geist wird, seiner eigentlichen Natur, die man Buddhanatur nennt, wortwörtlich bedeutet das: Natur des Erwachens.
Im Nirvana-Sutra heißt es: „Alle Wesen haben die Buddhanatur“, was bedeutet, dass alle Wesen die Fähigkeit zu erwachen haben. Aber ausgehend von diesem Satz hat man angefangen über die Buddhanatur zu spekulieren, wie es häufig der Fall ist. Man wollte aus der Buddhanatur etwas machen wie eine Art Samenkorn, das jeder im Grund seines Selbst besitzt, und so stellt sich eine Dualität ein zwischen sich und dieser Buddhanatur, eine Art Objekt, das in uns vorhanden ist, das man ergreifen sollte. Wenn man so denkt, geht man vollkommen am wirklichen Sinn der Buddhanatur vorbei, denn sie ist nicht irgendetwas.
Deshalb hat Meister Dogen diesen Satz umgeformt, indem er sagt: „Alle Wesen sind die Buddhanatur.“ Es handelt sich nicht darum, etwas zu besitzen, sondern das zu sein, was wir im Grunde wirklich sind.
Als Nangaku den Sechsten Patriarchen besuchte, fragte ihn dieser: „Was kommt also?“ Hier und jetzt sich fragen: „Was macht Zazen auf diesem Zafu?“ Nach mehreren Jahren Praxis antwortete Nangaku schließlich: „Es ist nicht etwas.“ Er hatte wirklich die Buddhanatur realisiert, nichts, was man ergreifen könnte.
Das ist der Sinn des ersten großen Zen-Koans: „Hat der Hund die Buddhanatur?“ Joshu antwortet: „Mu!“, nichts! Das scheint der Tatsache zu widersprechen, dass alle Wesen die Buddhanatur besitzen und dass diese Buddhanatur nichts ist, nichts Substantielles, nichts Greifbares. Sie ist kein Objekt und wenn man die Buddhanatur nicht fassen kann, dann liegt es daran, dass sie grenzenlos ist.
„Nichts“ ist keine Nicht-Existenz, sondern nichts, was man fassen könnte, weil es zu weit, unendlich, grenzenlos ist. Das ist genau die wahre Natur unserer Existenz, weit, unendlich, grenzenlos; wie die göttliche Natur, die man unmöglich in ein Konzept einsperren und vergeblich mit Worten ausdrücken kann. Aber das Wichtige ist, dass man sie verwirklicht.
Deshalb fragte Meister Eno Nangaku: „Aber gibt es Praxis und Verwirklichung?“ Und Nangaku antwortete: „Es gibt Praxis und Verwirklichung, aber das darf nicht beschmutzt werden.“
Der Sechste Patriarch freute sich und sagte: „Diese Nicht-Beschmutzung haben die Buddhas und Patriarchen übertragen und geschützt“, und das wurde die letzte Unterweisung von Meister Deshimaru, die Lehre von „fuzenna“: Nicht-Beschmutzung.
Der Geist ohne Beschmutzung ist es, der keine Teilung, Trennung bewirkt; es ist jenseits vom gewöhnlichen Geist, der ergreifen, abgrenzen, haben will. Es ist das hishiryo-Bewusstsein im Zazen, das nichts ergreift, an nichts haften bleibt, sondern sich auf natürliche Weise und unbewusst mit der letzten Realität oder Buddhanatur harmonisiert. Hishiryo, so funktioniert unser Geist, wenn er aufhört zu unterscheiden, gegenüberzustellen. Etwa die Praxis und die Realisierung des Erwachens einander gegenüberzustellen, voneinander zu trennen.
Für die meisten Menschen entwickelt man zuerst bodaishin, den Wunsch nach Erwachen, dann fängt man an zu praktizieren und schließlich, dank der Praxis erlangt man das Erwachen, am Ende eines langen Weges, nach einer langen Anstrengung. Wenn man aber mit diesem Gedanken praktiziert, bleibt man in der Dualität, im Getrenntsein, man will die Praxis hier und jetzt gebrauchen, um später irgendetwas zu erlangen. Aber genau diese geistige Haltung steht der Realisation des Erwachens im Weg, es bedeutet in der Gier zu verharren, im Besitzenwollen.
Das wahre Zazen bewirkt, dass wir dieses Denken loslassen. Wenn wir unsere ganze Energie in die Körperhaltung stecken, die ganze Aufmerksamkeit in die Atmung, so endet die gewöhnliche Funktionsweise unseres Geistes, wir hören auf, allem Möglichen nachzugehen oder uns dem entgegenzustellen und wir beginnen auf natürliche Weise in Harmonie mit der Buddhanatur zu funktionieren, indem wir einen weiten Geist realisieren, der alles umfasst, ohne etwas zu ergreifen. Gerade weil er an nichts anhaftet, ist er weit, kann er sich mit allem harmonisieren.
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