Leben, Tod, Karma, Reinkarnation
Frage: Wenn man alle Anhaftungen und alle Illusionen vorbeiziehen lässt, wodurch werden die Taten der Menschen gelenkt? Und wo ist der Unterschied zwischen Leben und Tod?
Roland Rech: In diesem Moment werden die Taten vom Mitgefühl gelenkt. Dieser Idealzustand, den du beschreibst, ist sehr selten. All seine Anhaftungen aufgeben ist das Ideal unserer Praxis. Wenn die Anhaftung an das eigene Ego abnimmt, ist man mehr für andere verfügbar. Man hat weniger Angst zu verlieren, man ist weniger auf sich selbst konzentriert und kann daher den anderen helfen. Das Mitgefühl des Bodhisattva ist nicht einfach humanitäre Hilfe. Es gibt viel Mitgefühl in dieser Welt. Viele Menschen widmen ihr Leben der Hilfe anderer. Aber wenn man sich auf dem Weg Buddhas befindet, kann man eine Hilfe erbringen, die darin besteht, anderen zu helfen, sich selber von ihren Anhaftungen und ihren Leidensursachen zu befreien. Dies unterscheidet sich sehr vom Totsein, aber es ist der Tod des Egos. Viele Menschen erkennen den Sinn ihres Lebens darin, einfach hinter irgendetwas, hinter egoistischen Befriedigungen her zu laufen. Für sie heißt, keine Wünsche oder Anhaftung zu haben, tot zu sein. Sie werden deprimiert und haben den Eindruck, dass ihr Leben keinen Sinn mehr hat.
Diese Frage hat noch einen anderen Aspekt. Wahres Loslassen heißt begreifen, dass es niemanden zu retten gibt. Dies ist der wesentliche Punkt des Diamantsutras Wenn ein Bodhisattva sich vorstellt, dass es Wesen zu retten gibt, ist er kein Bodhisattva mehr, weil er glaubt, es gäbe noch irgendwo ein Ego, es gäbe noch jemanden, der rettet und jemanden, der gerettet wird. Der Weg des Loslassens ist, zu verstehen, dass es niemanden gibt, der rettet und niemanden, der gerettet wird. In diesem Moment kann jeder wahrhaft befreit werden, jenseits von einem selbst, jenseits seiner Absicht, helfen oder retten zu wollen. Das ist die wahre Freiheit. Das hat nichts mit dem Tod zu tun, das ist das wahre Leben, das Leben Buddhas.
Frage: Ich habe Angst vor dem Tod, nicht nur vor meinem Tod sondern auch vor dem Tod anderer. Vielleicht ist es eine Frage der Anhaftung an das Leben, an das Ego, aber ich sehe nicht den Unterschied. Alle Religionen versuchen, eine Antwort auf den Tod zu geben. Man sagt, dass man den Augenblick des Todes wie jeden anderen Augenblick leben soll, hier und jetzt. Aber wenn er nicht so dramatisch ist, warum haben wir eine derartige Abneigung? Handelt es sich um einen schlechten Scherz der kosmischen Ordnung?
Roland Rech: Ein noch schlimmerer Scherz wäre, wenn der Tod nicht existieren würde. Man darf den Tod nicht nur von der negativen Seite her sehen. Tod heißt, dass unser gegenwärtiges Leben begrenzt ist und dass es keine Zeit zu verlieren gibt. Alle Augenblicke sind kostbar, auch der Augenblick kurz vor dem Tod. Die Aussicht auf den Tod ist die größte Stimulation, um so vollkommen wie möglich zu leben.
Die Frage, die man sich stellen muss, ist: „Was stirbt?“ In jedem Augenblick gibt es Geburt und Tod. Unser Ego ist ein sehr relatives Gebilde, und man täuscht sich, wenn man ihm anhaftet. Es gibt keine feste Substanz. Angesichts dieser Realität kann man das Erwachen verwirklichen, und nur Menschen, die den Weg praktizieren, können dies realisieren. Man kann in einem Zustand des Erwachens sterben, indem man akzeptiert, das Ego aufzugeben. Es ist wichtig, mit diesem Bewusstsein des Todes zu leben, um aus ihm ein Element der Befreiung zu machen. Wenn man diese Wirklichkeit nicht akzeptiert, befindet man sich in einem illusorischen Bewusstsein. Man kann in dieser angstvollen Sichtweise leben oder aber diese Angst in eine Quelle der spirituellen Revolution umwandeln.
Die grundlegende Frage ist: „Wer hat Angst?“ Dies ist ein hervorragendes Koan. Die Angst vor dem Tod gehört zu unserer eigenen Vorstellung. Niemand kennt den Tod. Das Einzige, was wir kennen, ist unser Leben hier und jetzt, das ein Bewusstsein hat. Dieses Bewusstsein hat Angst zu sterben. Wenn man das begreift, ändert sich alles. Die Konfrontation mit dem Tod ist der Ursprung selbst des Buddha-Weges aber auch eine Praxis, um freier zu leben. Der Buddhismus ist keine Religion, die den Tod vertuscht. Er ermöglicht es vielmehr, sein Leben vollständig hier und jetzt zu leben, um von Wiedergeburten befreit zu werden. Er ist eine Religion, die uns erweckt von diesem Leben, das durch Geburt und Tod konditioniert ist, eine Religion, die es uns ermöglicht, einen befreiten Geist zu verwirklichen, indem das Leben als Leben akzeptiert wird und der Tod als Tod. Der Tod ist nicht unser Feind sondern eine Chance.
Frage: Ich möchte wissen, welche Haltung im Zen zum körperlichen Tod eingenommen wird und wie es dazu kam, Reinkarnationen oder das Karma in Betracht zu ziehen.
Roland Rech: Die Reinkarnation ist ein Glaube, der nicht nur im Zen oder im Buddhismus verbreitet ist sondern ganzen Orient. Dieser Glaube hängt mit der Beobachtung zusammen, dass nichts durch Zufall geschieht, dass unsere Existenz Teil eines Netzwerks von wechselseitigen Abhängigkeiten, also von der Kausalität ist. Diese Kausalität hört nicht mit dem Tod auf. Es ist der Gedanke, dass die Taten, die wir begangen haben, notwendigerweise Auswirkungen erzeugen. Wenn diese Auswirkungen nicht in diesem Leben stattfinden konnten, müssen die Ursachen, die wir gesät haben, folglich in einer späteren Existenz keimen.
Offensichtlich stellt sich dabei die Frage über die Leerheit des Egos. Wenn man sagt, dass es kein substanzielles Ego gibt, was ist dann der Träger, der von einer Existenz zur anderen geht? Und wer erhält die Entlohnung des Karmas? Auf diese schwierige Frage ist die beste Antwort, die gegeben werden konnte, dass das, was letztendlich wiedergeboren wird, kein Ego ist sondern einfach die Fortführung eines Karmas.
Wie dem auch sei, es interessiert mich nicht so sehr zu versuchen, diese Art von Problemen zu lösen. Was mich interessiert und was noch mehr die Zen-Praktizierenden interessiert, ist, wie man sich inkarniert, wie ich mich von Augenblick zu Augenblick inkarniere, welches Karma ich von Augenblick zu Augenblick erschaffe. Was die Resultate angeht glaube ich, dass es Resultate geben wird und ich bin voll und ganz bereit, die Verantwortung für sie zu übernehmen. Aber ich berechne nicht. Ich versuche, in jedem Augenblick das zu praktizieren, was richtig ist, ohne mich um das Resultat zu sorgen und indem ich akzeptiere, dass es ein Resultat geben wird. Aber dies ist nicht der Beweggrund meiner Handlungen. Der Beweggrund ist, in Harmonie mit dem zu leben, was ich von der Existenz verstehe und von der Art und Weise, die so richtig wie möglich ist. Das Resultat ist zeitgleich mit der Handlung, und wichtig für mich ist wirklich hier und jetzt. Wenn ich hier und jetzt gierig bin und etwas ergattern will, lässt mich das als Resultat dieses Geisteszustands leiden. Diesen Zustand nennt man den Gaki-Zustand, ein Gefühl des Mangels haben, nicht zentriert sein. Das Resultat ist augenblicklich, nicht wahr? Von Augenblick zu Augenblick bin ich, was ich gegenwärtig mache.
Frage: Wenn der Geist ohne Beschmutzung realisiert ist, wo kann dann das Karma existieren?
Roland Rech: Im Geist ohne Beschmutzung erschafft man kein neues Karma. Dieser Geist ohne Beschmutzung ist in dem Moment da, in dem man Zazen praktiziert. Dies hindert das vergangene Karma nicht daran, im Zazen zu erscheinen als eine Art Spur, als eine Erinnerung an eine vergangene Handlung, als etwas, das im Bewusstsein deutlich wird. Wenn dies in einem Moment geschieht, in dem man in diesem Geist ohne Beschmutzung ist, wird man es einfach sehen und vorbeiziehen lassen. Das vergangene Karma wird einen nicht vereinnahmen, weil dieser Geist ohne Beschmutzung sich nicht mitziehen lässt. Es ist folglich der Moment einer großen Befreiung, in dem sich die Spannungen unserer vergangenen Konditionierungen lockern, in dem die Dinge wieder spielerisch und frei werden.
Man hängt nichts an, man handelt nicht, man macht nichts. Man macht dermaßen nichts, so dass man nicht einmal Zazen macht. Man ist nicht im „Zazen machen“, man ist eher im „Zazen machen lassen“. Aber man darf dennoch nicht denken, dass das vergangene Karma definitiv aufgeben ist. Die Erfahrung dieses Geistes ohne Beschmutzung während Zazen, jenseits unserer vergangenen Konditionierungen, hat das Verdienst, unserem Leben mehr Raum zu geben. Etwas hat sich gelockert. Und selbst wenn das vergangene Karma nicht völlig aufgehoben ist (an seine Aufhebung zu glauben ist eine Illusion), ist man weniger abhängig, weniger konditioniert, weil man eine Dimension erfahren hat, die über das Karma hinausgeht.
F.: Aber ist es nicht bereits Karma, wenn man auf die Welt kommt?
R.: Traditionell gesehen ist es das Resultat eines vergangenen Karmas, aber es kann auch das Resultat eines guten Karmas sein. Die Bodhisattva-Gelübde sind zum Beispiel das Vorhaben, sich dafür einzusetzen, allen Wesen zu helfen ihre Leiden zu lösen. Diese Bodhisattva-Gelübde führen von selbst die Absicht und den Akt herbei, bis ans Ende der Zeit wiedergeboren zu werden. Man kann folglich sagen, dass sie Karma-Träger sind, aber es ist ein positives Karma. Wie Meister Deshimaru sagte, ist es der Unterschied zwischen ins Wasser fallen und ins Wasser tauchen. Man fällt ins Wasser durch die Kraft seines Karmas, das oft negativ und nicht gemeistert ist. Es führt uns automatisch zu Funktionsweisen, von denen man absolut nicht frei ist. Tauchen dagegen ist, sich in einem bestimmten Moment der globalen Situation bewusst zu sein, der eigenen Situation und der Situation aller Wesen, die leiden. Dabei die Wahl treffen, sich nicht in eine Art Nirvana-Zustand zurückzuziehen, sondern sich im Gegenteil dafür zu entscheiden, in dieser Welt der Phänomene, in der das Karma existiert, zu bleiben und jedem zu helfen, sich von diesem Karma zu befreien. Dazu muss man selber akzeptieren, mit den Beschmutzungen des Karmas in Kontakt zu bleiben, nicht nur mit dem Karma der anderen und der Gesellschaft, in der man lebt, sondern auch mit seinem eigenen Karma. Dies steht im Gegensatz zu dem Geist des Hinayana, bei dem es darum geht, sich von allen Anhaftungen zu läutern bis zu dem Punkt, dass man nicht mehr wiedergeboren wird, dass man keinen Anlass zu einer weiteren Existenz hat. Der Bodhisattva aber akzeptiert, mit diesem Karma in Kontakt zu bleiben, mit seinem und dem Karma der anderen, um sich für eine Arbeit der Umwandlung einzusetzen.
Frage: Einige Personen streiten die Existenz des Karmas ab. Was denkst du darüber?
Roland Rech: Es ist völlig unrealistisch und sogar gefährlich, das Karma unter dem Vorwand abzustreiten, dass alles Leerheit ist. Ich glaube, es ist im Gegenteil sehr wichtig zu beobachten, dass nichts dem Gesetz des Karma entgeht, und dass all unsere Taten, unsere Worte und sogar unsere Gedanken Konsequenzen haben, „die Früchte des Karma“. Davon ausgehend ist es wichtig, mehr und mehr zu lernen, sein Leben zu meistern, aufmerksam zu sein und sich der Konsequenzen seiner Taten, seiner Worte und seiner Gedanken bewusst zu werden, um Gedanken, Taten, Wörter hervorzubringen, die wohltuend für die Umgebung sind. Nicht Leiden verursachen, indem man unverantwortlich ist und das Gesetz des Karmas ignoriert. Dogen sagte übrigens, dass derjenige, der das Karma und die Kausalität ignoriert, nicht einmal den ersten Schritt gemacht hat, der es ermöglicht, den Weg zu betreten.
Buddha selbst erzählt die Geschichte seines Erwachens. In der Nacht, in der er Satori erlangt hat, ist das Karma das erste, dessen er sich bewusst wurde. Es kommt hingegen vor, dass jene, die ihr Karma studieren, ihr Ego stärken, indem sie das Karma als ein Firmenzeichen, als eine Art Rechtfertigung für das Ego verstehen. Das Karma ist Leerheit und das Ego ist Leerheit. Dies ist das allerletzte Verständnis, das uns von allen Gefühlen von Schuld und Anhaftungen heilt. Dogen hat die beiden Standpunkte betrachtet und in zwei Kapiteln des Shobogenzo davon gesprochen. Im Shin Jin Inga spricht er über die karmische Kausalität. Er erzählt die Geschichte des Fuchses von Hyakujo. Im Dai Shu Gyo lehrt er die Mönche den absoluten Standpunkt. Man muss beide Standpunkte berücksichtigen: von Ku aus, der Leerheit, aber auch den von Shiki aus, den Phänomenen. Nagarjuna hat es richtig verstanden, indem er die Unterscheidung machte zwischen absoluter und relativer Wahrheit. Man darf nicht nur einen der beiden Aspekte sehen, sondern muss gemäß den vielfältigen Momenten beide Standpunkte umfassen.
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