Das Erste der grossen Gelübte des Bodhisattva

Teisho von Roland Yuno Rech - Maredsous, Juli 2007

Das erste des Vier Bodhisattva-Gelübde ist shujo muhen seigando:
"So zahlreich die fühlenden Wesen auch seien mögen, ich gelobe, sie alle zu retten."

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Shujo: Die fühlenden Wesen sind alle Wesen, die in den sechs Welten der Transmigration wiedergeboren werden. Gemäß der buddhistischen Kosmologie handelt es sich um Wesen, die in der Hölle leben, die hungrigen Geister (die Gaki, denen man mittags Brot anbietet), die Tiere, die menschlichen Wesen, die Asuras (kämpfende Gottheiten) und die Devas (Götter, die eine vergängliche Existenz haben und im Samsara sind). Jedes Wesen, das in diesen sechs Welten lebt, befindet sich dort aufgrund seines Karmas und für eine begrenzte Dauer.

Wenn man im Buddhismus davon spricht, die Wesen zu retten, heißt das, sie von der Notwendigkeit zu erlösen, in einer der sechs Welten wiedergeboren zu werden. Das bedeutet, ihnen zu helfen, das Nirwana zu realisieren, das Erlöschen der Wiedergeburt im Samsara, der Welt der Geburt, der Krankheit, des Alters, des Todes und aller Arten von Leiden und Unzufriedenheiten, die mit der Vergänglichkeit und Begrenztheit der Existenz verbunden sind. Indem der Bodhisattva dieses Gelübde ablegt, verpflichtet er sich, selber so lange im Samsara zu verbleiben, wie noch ein einziges fühlendes Wesen zwischen den sechs Welten wandert. Man könnte dabei meinen, dass der Bodhisattva für wahrscheinlich unbegrenzte Zeit auf sein eigenes Erwachen verzichtet, zumindest auf seine Befreiung aus dem Samsara. Dieses Gelübde scheint ein Verzicht zu sein, aber es ist ein Gelübde des Mitgefühls für alle fühlenden Wesen und des Verzichtes darauf, aus egoistischen Wünschen so schnell wie möglich gerettet zu werden. Und wenn man dieses Gelübde von ganzem Herzen ablegt und akzeptiert, bringt dies im Grunde genommen mit sich, dass man bereits erwacht und befreit ist.

Ihr werdet euch fragen, ob ihr diese Bodhisattva-Gelübde am Ende des Sesshins werdet aussprechen können, was für einige von euch ansteht. Denn wenn man sich selbst betrachtet, ist es offensichtlich, dass man nicht mit unbegrenztem Mitgefühl ausgestattet ist. Unser Mitgefühl ist leider begrenzt.
Man muss einen Unterschied machen zwischen der Bodhisattva-Ordination und einem vollendeten Bodhisattva. Was wir „Bodhisattva-Ordination“ nennen, ist das Ablegen dieses Ge-lübdes als Sinn unserer Praxis. Das bedeutet, dass man Vertrauen und Zuversicht in diesen Sinn der Praxis hat und dass man sich verpflichten will, in diese Richtung zu praktizieren, mit allen Begrenztheiten unseres gegenwärtigen Zustandes.
Wenn wir ohne jedes Bedauern über unser Gelübde nachdenken, ohne jegliches Gefühl uns geopfert zu haben, sind wir bereits in dem Geisteszustand eines erwachten und befreiten Wesens, selbst wenn unser Karma, unsere gewöhnlichen Konditionierungen uns im täglichen Leben einholen und wir erkennen, dass wir uns manchmal von diesem Gelübde überfordert fühlen. Wenn wir das Gelübde wahrhaft ablegen, ist es gleichwohl ein Ausdruck des Erwachens und der Befreiung.
Der Bodhisattva hängt allerdings nicht am Samsara, weil seine Weisheit es ihm erlaubt, die Grenzen des Samsara zu sehen und die Dringlichkeit, sich davon zu befreien. Durch seine Weisheit erkennt er, dass er sich davon befreien muss und durch sein Mitgefühl akzeptiert er, dass er dort bleiben muss, um den Wesen zu helfen. Weisheit und Mitgefühl sind für den Bodhisattva gleichwertig.

Für Meister Dogen sind dieses Ideal und diese Praxis des Bodhisattva keine Stufen auf dem Weg, Buddha zu werden. Traditionellerweise beschreibt man im Buddhismus den Werdegang des Bodhisattva in zehn Stufen, und die letzte Etappe, der allerletzte Punkt seines Weges auf den „Zehn Erden“ ist der Zustand des „samyaku sambodai“: ein vollkommener, allwissender Buddha. Aber in der Unterweisung von Meister Dogen ist das Ablegen dieses Ge-lübdes bereits die Verwirklichung des vollkommenen Erwachens, keine vorläufige Phase. Es ist der Ausdruck unserer Buddhanatur. Wir können dieses Gelübde aussprechen, weil wir bereits unsere Buddhanatur verwirklicht haben, die Buddhanatur nicht als Ideal, das es in einer fernen Zukunft zu erreichen gilt, sondern sogar als Grundlage unserer Existenz in völliger wechselseitiger Abhängigkeit mit allen Wesen in jedem Moment unseres Lebens. Das ist die Buddhanatur. Dies beinhaltet, sich mit all diesen Wesen solidarisch zu fühlen, mit denen wir völlig in wechselseitiger Abhängigkeit stehen, was nicht offensichtlich ist. Aber dennoch ist es die wahre Natur unserer Existenz, und dies zu verstehen ist die grundlegende Weisheit.

Mit dieser Sichtweise bringt man sich in Einklang, indem man das Gelübde des universellen Mitgefühls ablegt. Dies bringt eine Umwandlung des Geistes mit sich, um sich mit dem zu harmonisieren, was man über das Wesentliche seiner wirklichen Existenz verstanden hat: seiner Buddhanatur. Deshalb studiert ihr in den Workshops über die sechs Paramita die verschiedenen Praktiken des Bodhisattva. Die ganze Praxis des Buddha-Dharma besteht darin, uns mit dem, was wir wirklich sind, in Einklang zu bringen, insbesondere durch die Praxis der Gabe, der Geduld, der Gebote, der Energie, der Meditation und der Weisheit. Diese Praktiken sind sowohl Ausdruck der Buddhanatur als auch konkrete Mittel, um sie zu aktualisieren. Dieser Punkt ist wichtig, denn wenn sie nur Mittel sind, arbeitet man willentlich und in der Dualität. Aber wenn wir diese Praktiken als Ausdruck dessen verstehen, was wir sind, wer-den sie zu unserem Vertrauen in die Buddhanatur, werden sie etwas vollkommen Offensicht-iches und Natürliches, das sich vertieft und einfach zu praktizieren ist.

Angesichts der Unermesslichkeit des Bodhisattva-Gelübdes ist es wichtig zu verstehen, dass es in Wirklichkeit niemanden zu retten gibt. Das ist die tiefe Unterweisung des Diamant-sutras. Es gibt in der buddhistischen Unterweisung widersinnige Dinge, aber diese Paradoxe haben eine befreiende Wirkung. Wenn wir nicht verstehen, dass es kein Wesen zu retten gibt, können wir uns unendlich schuldig fühlen, was unseren Gleichmut stören kann, denn diese riesige und fast unendliche Aufgabe, alle Wesen zu retten, ist eine Quelle des Leidens für den Bodhisattva. Ein Bodhisattva leidet nicht mehr aufgrund seines Egos, sondern aus Mitgefühl. Um dieses Leiden aus Zuneigung zu lindern, braucht der Bodhisattva Weisheit. Er erinnert sich, dass es wegen des Nicht-Egos, wegen der Leerheit kein Wesen und kein Ego zu retten gibt. Alle Wesen sind bereits gerettet oder befreit, denn sie sind Leerheit, sie sind ohne Ego.

Der letzte wichtige Punkt zu diesem großen Bodhisattva-Gelübde ist, dass man in Wirklichkeit kein Wesen retten kann. Das ist das zweite Paradoxon, das genauso befreiend ist wie das erste. Denn die Wesen können nur durch ihre eigene Buddhanatur befreit werden und durch ihre eigene Praxis, die sie mit eben jener Buddhanatur in Kontakt bringt. Das Gelübde, alle Wesen zu retten, ist folglich kein großartiger Wunsch von Allmacht, der darin besteht, die ganze Welt retten zu wollen. Es ist der Wunsch, die Wesen auf den Weg zu bringen, durch ihre eigene Buddhanatur gerettet zu werden, und das mir allen einem zur Verfügung stehenden Mitteln.

Andere Punkte sind interessant. Zum Beispiel muss ein Bodhisattva alle Aspekte betrachten, um sein großes Gelübde zu erfüllen: die angemessene Betrachtungsweise annehmen, um mit der Sorte von Menschen in Kontakt zu treten, denen er in diesem Moment helfen will.

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Hier die Geschichte von Kannon, die sich als Fischverkäuferin verkleidete: Eines Tages kam ein hübsches junges Mädchen ins Dorf, um Fische zu verkaufen. Die Männer des Dorfes machten ihr den Hof und sie versprach, denjenigen zu heiraten, der bis zum nächsten Tag das Hannya Shingyo erlernt hätte. Etwa zehn Männer hatten es bis zum anderen Morgen geschafft. Also versprach sie, denjenigen zu heiraten, der das Diamantsutra lernen würde. Anderntags kannten es zwei oder drei auswendig. Nun versprach sie, denjenigen zu heiraten, der das Lotussutra auswendig wüsste. Am nächsten Morgen wusste es ein junger Mann und sie heiratete ihn. Danach wurde sie krank und ihr Gatte versprach ihr, sie niemals zu vergessen. In der folgenden Nacht erschien sie ihrem verängstigten Mann im Traum und enthüllte ihm, dass sie Kannon, der Bodhisattva des Mitgefühls sei, und sagte ihm: „Wenn du dich wirklich an mich erinnern willst, wie du es versprochen hast, verkünde nun, da du alle Sutras gelernt hast, den Dharma, und hilf den Wesen mit der Unterweisung Buddhas.“
Dies ist ein klassisches Beispiel für die Fähigkeit eines Bodhisattvas, in verschiedenen Formen zu erscheinen, auch in der Form eines verführerischen hübschen Mädchens, das die Männer des Dorfes mit geschickten Mitteln dazu verleitet, die Sutras zu lernen. (Hier sind Ideen für Euch alle.)

Um zum ersten Bodhisattva-Gelübde zurückzukommen, möchte ich eine Verbindung zu shin jin datsu raku herstellen: „Körper und Geist während Zazen von jeder egoistischen Anhaftung frei machen.“ Keizan sagt: „Sein ursprüngliches Gesicht zeigen, die Aspekte seines ur-sprünglichen Zustandes offenbaren: Körper und Geist abgeworfen, entblößt, frei, ob man sitzt, liegt oder eine andere Haltung einnimmt.“
Oft sagt man, dass im Zen zu wenig Nachdruck auf Liebe und Mitgefühl gelegt wird, was manche vor Fragen stellt. Ich glaube, dass das Mitgefühl ganz grundlegend für unsere Praxis ist. Wenn wir nicht angetrieben sind von diesem Geist des Mitgefühls und Wohlwollens in Bezug auf alle Wesen, kann unsere Meditationspraxis sogar gefährlich werden, denn sie kann unsere egoistischen Kräfte verstärken und den Sinn der Praxis pervertieren. Zum Bei-spiel wollen Kampfsportler meditieren, um stärker, konzentrierter zu werden und um ihre Gegner besser angreifen zu können. Das ist ein etwas extremes Beispiel, aber es gibt Men-schen, die aus diesen Gründen Zazen machen. Manchmal sieht man auch in unserer Sang-ha Leute, die dazu neigen durch Zazen zu verhärten. Ich denke, dass es da irgendwo einen Irrtum in der Praxis gibt. Vielleicht verwechseln sie Loslassen mit Gleichgültigkeit.

Es gibt eine zweite Reihe von Fragen: Einige sind völlig damit einverstanden, ihre Anhaftun-gen während Zazen loszulassen, aber auf keinen Fall im Alltagsleben. Zazen wird ausge-klammert: „Während Zazen einverstanden, aber danach: nein!“ Meister Nyojo, der Meister von Dogen, spricht von Anhängern des Buddhismus, die die sitzende Meditation, also Zazen, praktizieren, aber deren Mitgefühl schwach ist. „Sie durchdringen nicht den wahren Charak-ter aller Dinge mit einem tiefen Verständnis. Und so vervollkommnen sie sich nur selbst und zerbrechen die Übertragungslinie Buddhas.“ Ihr Zazen ist folglich nicht das wahre Zazen Buddhas Er geht näher darauf ein: „Ich will damit sagen, dass die Buddhas und Patriarchen sich von ihrer ersten Eingebung an in Zazen setzen mit dem Wunsch, alle Qualitäten des Erwachens und selbst des Buddhazustands zu vereinen. In ihrem Zazen aber vergessen sie nicht die fühlenden Wesen: sie haben immer liebevolle Gedanken und Mitgefühl für alle We-sen, sogar für Insekten, nicht nur für Menschen. Und so geloben sie, sie alle zu retten. Und welche Verdienste auch immer aus ihrer Praxis entstehen mögen, sie widmen sie allen We-sen.“
Da Meister Dogen diese Unterweisung von Meister Nyojo zitiert und Dogen derjenige ist, der die Praxis inspiriert, der wir folgen, wollte ich ihn als eine Art Autorität zitieren, um die große Wichtigkeit dieses Mitgefühls in unserer Praxis zu bekräftigen. Das heißt aber nicht, dass wir automatisch sehr mitfühlend sind, wenn wir Zazen praktizieren, denn in unserem Karma, in unserem Leben gibt es alle möglichen Hindernisse, die dem Ausdruck dieses Mitgefühls im Weg stehen. Wenn wir dieses Gelübde des Mitgefühls ablegen und es als Kriterium für die rechte Praxis betrachten, können wir uns aber zumindest selbst beobachten und sehen, wo die inneren Hindernisse sind, die dem Ausdruck dieses Mitgefühls im Weg stehen. Wenn dem so ist, wenn wir uns wirklich nicht für sehr mitfühlend halten, können wir uns fragen, wa-rum das in diesem Moment so ist, wie mit einem Koan; nicht um uns zu beschuldigen, son-dern lediglich um ein Signal zu bekommen, das uns anzeigt, dass da etwas passiert und dass wir genau betrachten sollten, was da passiert.

Ich möchte von den Mitteln sprechen, die den Geist des Mitgefühls und des Wohlwollens an-regen. Ich glaube, dass der Mensch im Grunde mitfühlend und wohlwollend ist. Nicht, weil ich ein großer Idealist bin, sondern weil die Menschheit schon seit langer Zeit verschwunden wäre, hätten nicht alle von uns diese Empathie, diese Fähigkeit sich in andere hineinzuver-setzen und so zu vermeiden, ihnen Leiden zuzufügen. Wenn die Menschheit fortfährt, sich zu entfalten -  umso mehr jetzt mit der Überbevölkerung –, kann man trotzdem nicht sagen, selbst wenn es Konflikte, Kriege, Massaker gibt; dass die Konflikte zunehmen. In der ver-gangenen Dekade haben sie sich tendenziell eher verringert. Wie dem auch sei, die Menschheit entwickelt sich weiter, weil es im Grunde der Menschen diese Fähigkeit der Em-pathie gibt. Sonst hätten wir uns schon längst gegenseitig zerstört. Wie kann diese Empathie entwickelt werden, wenn schon nicht zur Vollkommenheit, so doch zumindest bis zu dem Punkt, wo sie grundlegend die menschlichen Beziehungen verändert?

Übrigens, warum scheint es nicht offensichtlich zu sein, dass wir im Grunde wohlwollende und mitfühlende Wesen sind? Warum inspiriert uns die Buddhanatur in uns eigentlich nicht mehr? Das liegt glaube ich daran, weil wir an einem Fehler leiden, einem Irrtum aufsitzen. Ich habe es wiederholt zur Sprache gebracht. Wir identifizieren uns mit einer irrigen Idee, die wir von uns selber machen. Wir identifizieren uns mit unserem kleinen Ego, mit unserer Ge-schichte, mit unseren Vorlieben, und sagen uns schließlich: „so und so bin ich.“ Und am Ende glauben wir es. Wir bauen uns eine bestimmte persönliche Identität und klammern uns daran. Wir bilden daraus vielleicht einen Panzer, eine Rüstung. Wir glauben, dass alles, was dieses Selbstbild bedrohen kann, gefährlich ist, unser Feind ist und dass wir uns gegen das verteidigen müssen, was dieses Selbstbild bedroht. Umgekehrt werden wir gierig nach dem, was uns erlaubt, dieses Selbstbild noch aufzublähen, seine Macht, sein Ansehen, seine Wichtigkeit noch zu vergrößern. Deshalb sprechen Dogen, vor ihm Nyojo und nach ihm Keizan davon, sich frei zu machen, loszulassen, während Zazen die Anhaftung an Körper und Geist aufzugeben Das heißt, die Anhaftung loslassen an eine durch unser Karma gefärbte Vorstellung, die wir von unserem Körper und unserem Geist haben, von Ideen, die wir uns von uns selbst machen, aufgrund derer wir uns letztendlich für ein begrenztes Wesen halten. Um all das loslassen zu können, ist die Praxis von Zazen wirklich extrem machtvoll. Aber man muss auch die Überzeugung haben, dass es gut ist, das Ego im Sinne eines Irrtums, einer begrenzten Idee von sich selbst loszulassen.

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Am besten probiert man es aus. Wenn zum Beispiel jemand in einer Gruppe auf seiner Posi-tion beharrt, erlebt man oft, wie sich am Ende alle in der Gruppe versteifen, aggressiv wer-den und in einen Wettkampf treten, wie sich bei manchen der Geist verhärtet und widersetzt. Wenn aber jemand kehrtmacht und seine Haltung aufgibt, sind auf einmal alle erstaunt und man fragt sich: „Ja, warum eigentlich nicht, warum nicht mal nachgeben?“
Ich glaube sehr an diese Tugend anzufangen, das Loslassen zu wagen. Nicht nur in Zazen, sondern auch im täglichen Leben. Dafür muss man allerdings verstehen, dass dieses Los-lassen keine Beeinträchtigung, kein Opfer ist. In dem Zusammenhang muss zum Thema Be-gierden etwas klargestellt werden: in der Unterweisung Buddhas spricht man oft davon, die Begierden aufzugeben. Aber die Begierde ist das Leben, ohne Begierde wären wir nicht da. Folglich ist man etwas misstrauisch, wenn man hört, dass man die Begierden aufgeben soll. Wenn zum Beispiel Meister Nyojo Dogen erklärt, was es bedeutet, Körper und Geist in Za-zen abzuwerfen, muss man verstehen, dass er vom Aufgeben der fünf Begierden und der fünf Hindernisse spricht. Offensichtlich handelt es sich um Hindernisse bei der Meditation. Traditionellerweise bezeichnet man die Begierden, den Hass, die Schläfrigkeit, die Aufge-regtheit (oder Gewissensbisse) und den Zweifel als die Fünf Hemmnisse oder Hindernisse bei der Meditation. Wenn wir zum Beispiel während Zazen nur Sex im Kopf haben, wenn wir Bilder sehen, die uns den Kopf verdrehen, Fantasien, wenn wir ungeduldig auf das Ende von Zazen warten, um uns der begehrten Person nähern zu können, macht das die Praxis sehr, sehr schwierig. Das ist ein wahres Hindernis. Genauso, wenn wir während Zazen Wut ver-spüren, weil wir zum Beispiel kritisiert oder verletzt wurden, und wir jemandem wirklich etwas verübeln, wenn wir wirklich grantig sind und wir uns überlegen, wie wir uns rächen können, wird dies ganz klar ein regelrechtes Gift, das uns während der Praxis zerfrisst. Deshalb spricht man von Hindernis. Man kann dies sehr gut erfahren. Das gleiche gilt für die Schläf-rigkeit, die Aufgeregtheit und die Gewissensbisse. Wenn man Gewissensbisse hat, läuft es darauf hinaus, dass man auf sich selbst wütend ist, also sich selber hasst. Zweifel zu haben bedeutet nicht, sein eigenes Ego in Frage zu stellen (manchmal ist es gut, an sich selbst zu zweifeln, sich selbst in Frage zu stellen), sondern an der Praxis und der Unterweisung zu zweifeln. Wenn wir etwas tun und im selben Moment unser Tun anzweifeln, können wir uns nicht wirklich engagieren.

Es ist einleuchtend, dass die Fünf Hindernisse wirkliche Hindernisse bei der Meditationspra-is sind. Deshalb wird empfohlen sie loszulassen. Gleichzeitig kann man sehen, dass sie auch Hindernisse für Mitgefühl und Wohlwollen sind. Wenn wir zum Beispiel besessen von Sex sind, ist es klar, dass der andere für uns eher zum Objekt der Befriedigung wird. Im besten Fall wird diese Befriedigung geteilt, was gut ist, aber im Allgemeinen neigt die gierige Seite der sexuellen Obsession dazu, den anderen darauf zu reduzieren, nur als Lustobjekt zu existieren. Wenn zum Beispiel der Partner sagt: „Ich habe Kopfschmerzen, es geht heute nicht, warte einen anderen Tag ab“, wird man eher wütend und unzufrieden, weil man in seiner Begierde enttäuscht wird. Da kann man anfangen sich zu fragen, ob man wirklich liebt oder ob man den anderen nur als Lustobjekt begehrt. So ist es auch mit den anderen Hindernissen: die Wut steht offensichtlich im Gegensatz zum Mitgefühl. Übrigens ist ein gutes Mittel gegen Wut, in dem Moment, in dem wir wütend sind, in uns den Geist der Empathie auftauchen zu lassen. Wir sind wütend auf jemanden und beharren auf unserem Standpunkt. Das, was der andere tut, ist für uns unannehmbar. Aber wenn wir uns in den anderen hinein-versetzen, wird dadurch vielleicht unsere Wut gemildert und dann können wir vielleicht das geeignete Mittel zur Lösung der Situation, die unsere Wut verursacht hat, finden. Aber die Wut kann auch durchaus berechtigt sein: bei einer Ungerechtigkeit oder wenn jemand einen Fehler begangen hat. Jedenfalls kann man eine Situation nicht angemessen lösen, solange man unter dem Einfluss der Wut steht.

Das tägliche Leben ist natürlich etwas anders als in Zazen. Die Empfehlungen, die Buddha und Nyojo den Mönchen gaben, richteten sich natürlich an Personen, die das Gelübde abge-legt hatten, alles aufzugeben, um in einem Kloster zu leben und zum Beispiel auch gelobten, alle sexuellen Beziehungen aufzugeben. Es leuchtet ein, dass es für Mönche, die das Keuschheitsgelübde abgelegt hatten, grundlegend war, den Geist nicht durch das Nähren sexueller Begierden zu stören. Aber im Zen-Buddhismus legt man seit anderthalb Jahrhun-derten dieses Gelübde nicht mehr ab. Daher stellt sich die Frage etwas anders. Die Frage lautet: Wie können wir unsere sexuellen Begierden in einer Weise leben, dass sie kein Leiden um uns herum schaffen und sogar im Gegenteil zur Entwicklung des Geistes des Erwa-chens beitragen können? Das ist durchaus möglich, es gibt der Sexualität eine ganz andere Dimension als einfach nur die Befriedigung unserer Grundtriebe. Das Verlangen, das man nach dem anderen empfindet, mit dem Wunsch verbinden, zu seiner spirituellen Erhöhung, zu seinem Erwachen beizutragen. Diejenigen, die sagen, „Ich will gerne meine Begierden loslassen aber nur während Zazen“, denken im Allgemeinen besonders an den Aspekt der Sexualität. Aber wir müssen verstehen, dass im Zen der Sinn unserer Praxis im täglichen Leben darin liegt, die negativen Eigenschaften unserer Begierden aufzugeben, also das, was durch unsere Begierden zu Leiden führt. Im Gegenteil, das Ziel ist es zu versuchen, dass unsere Begierden zu bodai shin beitragen, zum Geist des Erwachens. Das erfordert natürlich viel Weisheit. Wir müssen lernen, uns selbst ausreichend zu kennen, um unsere Empathie für andere entwickeln zu können. Denn ein grundlegender Aspekt des Mitgefühls ist, die an-deren so zu behandeln, wie wir selber behandelt werden wollen. Dazu ist es notwendig, unsere eigene Sensibilität zu entwickeln, zu verstehen, wie wir behandelt werden wollen, zu vermeiden, auf unsere Meinungen zu beharren und im Gegenteil fähig zu sein, uns fließend zwischen der eigenen Haltung und der des anderen hin- und herbewegen zu können.
Ich glaube, dass durch Zazen, durch diese Praxis des Vorbeiziehenlassens, des Loslassens, des Nichtverweilens auf einer fixen Idee, unser Geist geschmeidig wird und befähigter für diese Gymnastik, von seiner eigenen Position zu der des anderen zu wechseln und umge-kehrt. Im tantrischen Buddhismus gibt es systematische Praktiken, sich an die Stelle des an-deren zu versetzen. Ich glaube, dass dies unter den geschickten Mitteln des Buddhismus ein ausgesprochen interessantes ist. Und selbst wenn wir es in Zazen nicht praktizieren, ist es gut, das im täglichen Leben zu tun. Es ist ganz einfach: ihr steht an der Bar und diskutiert mit jemandem. Was der andere euch erzählt, erscheint euch seltsam, ihr seid damit nicht ein-verstanden usw. Und auf einmal sagt ihr euch: „Aber gut, ok, ich lasse meinen Standpunkt fallen, ich versuche, mich an die Stelle des anderen zu versetzen“. Probiert es aus! In die-sem Moment wird die Bar zu einem sehr guten Ort der Praxis, das heißt zu einem Ort, an dem man die Leute sehr frei und ohne Formalismus treffen kann, ohne definierte Rolle, ohne besondere Position – abgesehen von der Barverantwortlichen, die kassiert. Wir finden uns mit den anderen in einer ganz ähnlichen, gleichen Lage wieder und können wirklich versuchen, diesen Austausch zu praktizieren.

 

Tags: Roland Yuno Rech

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