Zanshin, der Geist der Geste
Teisho de Patrick Pargnien
Durch die Praxis des « Geistes der Geste » kann sich der Weg gänzlich in unserem Leben entfalten, ohne dass dies auf einen Raum oder die Zeit beschränkt wäre. Denn, wäre diese Praxis an einen Ort, eine Haltung oder einen Zeitraum gebunden, dann wäre dieser Weg zutiefst begrenzt und würde uns in unserer Dimension als freies menschliches Wesen einschränken.
Zanshin bedeutet wortwörtlich der » Geist der Geste ». Das heißt, vollständig gegenwärtig in allen Gesten zu sein, in allen Momenten unseres Lebens, und uns so von der Last des Mentalen zu befreien. So können wir in jedem Augenblick unseres Lebens verwirklichen, dass wir ein freies erwachtes Leben erfahren können.
Das geht mit einem Erfahren des spirituellen Weges in jedem Augenblick unseres Lebens einher. So vermeiden wir, dass der Weg zu einer Wellness- oder Entspannungstechnik wird. Die körperliche Gesundheit und die geistige Entspannung sind lediglich Auswirkungen der spirituellen Praxis, sie sind nicht die Praxis selbst.
Durch die Praxis des « Geistes der Geste » kann sich der Weg gänzlich in unserem Leben entfalten, ohne dass dies auf einen Raum oder die Zeit beschränkt wäre. Denn, wäre diese Praxis an einen Ort, eine Haltung oder einen Zeitraum gebunden, dann wäre dieser Weg zutiefst begrenzt und würde uns in unserer Dimension als freies menschliches Wesen eingrenzen.
Es würde bedeuten, dass man sich auf die Anwendung einer Technik zur Erweckung des Geistes beschränkt. Folglich wären die Befreiung und der Geist des Erwachens ein gesonderter und von der menschlichen Wirklichkeit getrennter Zustand.
Dahingegen vertritt Buddhas Unterweisung, also auch die Zen-Unterweisung, den Standpunkt, dass wir im Grunde alle erweckt sind und dass dieses stille Licht nie aufgehört hat zu leuchten.
Ein Vergleich mit dem Himmel kann uns dies am besten verdeutlichen: selbst wenn der Himmel heute bewölkt ist, scheint die Sonne immer noch, sie hat nie aufgehört zu scheinen. Nur ist es so, dass die mehr oder weniger dichte Wolkendecke die Sonne abschirmt und das Licht filtert.
Wenn sich die Wolkenfelder auflockern, erscheint nicht die Sonne als eine neue eigene Wirklichkeit, sie wird nur für uns sichtbar. Wenn die Sonne aus unserem Sichtfeld verschwindet, heißt das nicht, dass die Sonne selbst nicht mehr da ist.
Die Praxis des « Geistes der Geste » knüpft die Verbindung zwischen dem Alltagsleben und dem spirituellen Weg, zwischen dem absoluten Geist und der relativen Welt. Sie lässt uns jeden Augenblick des Lebens als die Praxis des Weges, als einen Moment des Erwachens wahrnehmen. In jedem Augenblick kann der Himmel klar werden, die Wolken können sich auflockern, so wie der Nebel sich auflöst, wenn er mit dem Sonnenlicht in Berührung kommt.
In einem Zendo (Ort der Praxis) gibt es Regeln, wie man sich im Dojo fortbewegt, wie man ist. Dabei ist es wichtig, diese Regeln auf eine lebendige Weise zu schätzen, als geschickte Mittel um uns mit dem gegenwärtigen Augenblick ins Lot zu bringen, und nicht wegen ihres formellen oder historischen Aspekts, oder weil es exotische Regeln aus Japan sind. So können wir zutiefst uns selbst sein und aufhören zu glauben, dass sich unser Leben anderswo abspielt, dass es anderswo besser wäre, dass der nächste Augenblick glücklich sein wird. Dann können wir im jetzigen Augenblick glücklich sein.
Die Praxis des « Geistes der Geste » führt uns aus einem Schein-Bewusstsein in eine Gegenwärtigkeit in jeder Bewegung unseres Körpers, in jeder Geste, die wir ausführen. Es ist durchaus möglich, durch die Gegenwärtigkeit jede Geste mit Schönheit und Ästhetik sorgfältig auszuführen, in jeder Geste innezuwohnen. Wir können Freude über die Schönheit der Geste empfinden, ohne dass unser Bewusstsein darauf fixiert wäre. So spüren wir z.B. wenn wir hier stehen sehr konkret und auf eine einfache Art die Frische und die Struktur des Bodens. Wir spüren die Bewegung des Körpers, d. h. wir sind im Zentrum jeden Spürens und sind gleichzeitig in Verbindung mit unserer Umgebung.
Es ist interessant, alle Körperhaltungen im Zendo als einen Weg der Mitte zu praktizieren und zu verstehen. Man versucht, diesen Weg des Gleichgewichts in seinem Körper zu verwirklichen: in allen Positionen weder zu angespannt noch zu entspannt zu sein. Dies gilt auch für die Art, sich im Dojo fortzubewegen, wenn man die Ecken markiert. Indem man erneut einen Schritt mit dem rechten Fuß macht, bildet man einen rechten Winkel mit einer gewissen Exaktheit aber gleichzeitig mit Anmut. Genauso sind wir, wenn wir mit dem linken Fuß ins Zendo eintreten, völlig gegenwärtig in diesem Augenblick.
Natürlich können wir auch mit dem linken Fuß eintreten und diese Geste nur mechanisch ausführen. Aber Zanshin zu praktizieren heißt eben gerade, diese Gesten nicht mechanisch auszuführen, sondern mit dem gleichen Geisteszustand, mit dem wir Zazen praktizieren, d.h. mit einem frischen Geist, mit einer Erfahrung die durch den Körper erlebt wird, und sich so auf die Neuartigkeiten des gegenwärtigen Lebens auszurichten. Wir können Zanshin auch mit Zazen übersetzen. Essen, gehen, mit dem linken Fuß ins Zendo eintreten, das ist Zazen. Selbst wenn wir in unsere Gedanken verstrickt sind, uns dessen bewusst werden und wieder zum gegenwärtigen Augenblick zurückkommen, ist das Zazen.
Alles was im Zendo geschieht, alles was wir im Zendo tun ist die Praxis des Weges und es ist eine kostbare Hilfe, dies durch unseren Körper zu realisieren.
Wir können beispielsweise Gassho (Gruß) auf verschiedene Weise ausführen: mit hochgezogenen Schultern und gesenkten Unterarmen….. Ist aber unser Körper in einer Linie ausgerichtet, die Handflächen berühren sich auf Brusthöhe (Herzhöhe), die Unterarme sind waagerecht, dann bauen sich keine unnötigen Spannungn im Körper auf, der Rücken ist auf natürliche Weise senkrecht und ein Zustand der Gegenwärtigkeit und Aufnahmefähigkeit kann erlangt werden.
In all diesen Gesten kann der Weg der Mitte zum Ausdruck gebracht werden, genauso wie in allen unseren Gesten im Alltag. Wenn wir jede unserer Handlungen mit einem zentrierten Geist, aufgerichtet und gleichzeitig leicht und fließend, vollbringen, dann können wir durch unseren Körper einen feinen und wohlwollenden Geist entwickeln.
Wir neigen im Zen dazu, eine fokussierende Konzentration zu entwickeln, die uns in der lebendigen Wirklichkeit des Augenblicks sammelt und die Illusionen durchschneidet. Ohne den Geist des Mitgefühls wäre diese Konzentration härter als das Schwert eines Samurai. Ein spiritueller Weg ohne den Geist des Mitgefühls ist ein gefühlloser Weg, der nur dem Namen nach ein spiritueller Weg ist.
Darüber hinaus lässt uns der « Geist der Geste » erkennen, dass es in der Praxis des Lebens, des Weges im Alltag, weder bedeutende noch unbedeutende Dinge gibt, weder Wichtiges noch Unwichtiges.
Diese Praxis sprengt all unsere Kategorien und es gibt nur die eine Wirklichkeit in der wir sind und durch die wir den Geist des « Durchdringens » (im Herzen von etwas zu sein) erfahren können, so dass wir nicht mehr an der Peripherie unseres Lebens bleiben. Im Geist des Weges hat alles seine Wichtigkeit. Der spirituelle Weg sollte alle Aspekte des Lebens mit einbeziehen. Dies zeigt folgende Geschichte:
Ein Mönch wollte Meister Ikkyu in seiner Einsiedelei aufsuchen, um seine berühmte Unterweisung zu erhalten. Als es es zu regnen anfing, öffnete der Mönch seinen Regenschirm und setzte seinen Weg fort. Er erreichte die Einsiedelei, schloss den Schirm, zog seine Schuhe aus, stellte sie neben die Tür und stellte sich Ikkyu mit folgenden Worten vor:
"Ich praktiziere nun schon mehrere Jahre und möchte dein Schüler werden und deine Unterweisung erhalten."
Von einem Meister erwarten wir Fragen zur Unterweisung, über die Tiefe der Praxis oder über die eigene Verwirklichung, aber Ikkyu fragte einfach nur: "Auf welcher Seite der Tür hast du deinen Schirm abgestellt?"
Der Mönch überlegte und musste verlegen zugeben: "Ich weiss es nicht."
Ikkyu antwortete ihm: "Komm später wieder, du hast Zen nicht verstanden."
"Was! Wegen eines so kleinen Fehlers schickt ihr mich weg?" rief der Mönch.
"Du hast tatsächlich nichts von der Praxis verstanden! Es gibt keine kleinen Fehler im Zen." antwortete Ikkyu.
Essen, schlafen, arbeiten, auf der Straße gehen, in einer Beziehung leben, auf all dies in der Wirklichkeit so wie sie ist achtsam zu sein, das ist die spirituelle Praxis unseres Lebens.
Auf die Gesten die man ausführt achtsam zu sein bedeutet nicht, plötzlich in Zeitlupe zu verfallen, denn dies wäre eine egozentrische Gegenwärtigkeit, eine fokussierte Konzentration. Die Konzentration sollte nicht hart, rigide und auf etwas gerichtet sein, sondern entspannt, offen und im Herzen und Geist geschmeidig. So kann man sich gewahr werden, dass der Weg ein Weg der Öffnung ist.
Konzentriert und gegenwärtig zu sein ist nicht nur eine Art zu handeln, sondern eine Geisteshaltung, egal welche Handlung wir gerade ausführen.
Es ist wesentlich, dass wir diesen vereinten Körper-Geist, den wir in der Zen-Praxis erfahren, auch außerhalb des Dojos ausstrahlen lassen, beim Sprechen, auf der Straße, beim Essen, auch wenn uns dies schwieriger erscheinen mag.
Wenn man immer gegenwärtiger im Jetzt sein kann, gewissermaßen dem Leben, dem jetzigen Augenblick Ehre erweist ( denn der einzige Ort an dem wir zutiefst lebendig sind ist genau da, wo wir uns gerade befinden), dann wird die einfachste unserer Gesten, unserer Handlungen von viel mehr Sorgfalt, Liebe und Freude durchdrungen zu sein.
Die subtilste Form von Zanshin und die am schwersten zu verwirklichende ist schließlich, wenn es « niemanden » mehr gibt, der handelt. Wenn wir z. B. eine Tür öffnen, dann sind wir in vollem Bewußtsein der Handlung die wir gerade ausführen, sind achtsam auf die Gefühle, die Wahrnehmungen, auf die momentanen Gedankenformationen, aber es gibt kein « Ich » mehr, das sich die Handlung des Türeöffnens aneignet, nur ein Bewusstsein davon, das nicht eingreift. Ihr habt vielleicht in eurem Leben schon die Erfahrung gemacht, dass ihr viele Dinge an einem Tag zu erledigen hattet und dass alles reibungslos und ohne Probleme ablief. Das ist gewissermaßen eine ähnliche Erfahrung. Wenn das mentale Begreifen absichtslos wird, aufhört tun zu wollen oder nicht zu wollen, dann schafft es Raum für die Verwirklichung der Handlung. Das heißt, es gibt dann keine Trennung mehr zwischen der Absicht, zwischen dem Bewusstseins und zwischen der Handlung, nur noch ein fließendes Zirkulieren, ein Geschehen lassen, ein großes Vertrauen in das Leben des Universums das uns innewohnt.
Dies im Dojo zu verwirklichen erfordert ein ständiges Zurückkommen zur Achtsamkeit. Dann kann dieses tiefe Bewusstsein, diese völlige Gegenwärtigkeit in den verschiedenen Handlungen und in den verschiedenen Aspekten unsers Lebens fortgeführt werden. Diese Praxis hat weder Beginn noch Ende. Wir üben Augenblick für Augenblick, ohne ungeduldig zu werden. Durch diese Gegenwärtigkeit schwindet der Einfluss aller Qualen, aller Sorgen, aller Ängste. Jedes Gefühl der Trennung verschwindet. Dann erhebt sich Freude, eine stille einfache Freude, einfach nur da zu sein, in Harmonie mit jedem Augenblick.
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