Das Ego im Zen-Buddhismus

Artikel von Roland Yuno Rech, erschienen in der AZI-Revue Zen, 2020
Illustratíonen von Christian Gaudin

„Das Ego aufzugeben bedeutet nicht, es zu verlieren, sondern es zu überwinden.“

In der Geschichte des Zen gibt es eine Vielzahl von Unterweisungen über die Natur des Egos. Es existiert natürlich, aber nicht in substanzieller, dauerhafter und getrennter Weise. Die Identifikation mit dieser mentalen Konstruktion verursacht menschliches Leid. Der Weg des Erwachens hingegen besteht darin, sich aus dieser egozentrischen Enge zu befreien, um mit allen Existenzen in wechselseitiger Abhängigkeit zu leben.

Ich beziehe mich auf mein Ego, wenn ich sage: "Ich, ich...". Seine Existenz ist sofort offensichtlich. Es ist meine Persönlichkeit, die Summe meiner bisherigen Erfahrungen, dessen, womit ich mich identifiziert habe, die Werte, an denen ich festhalte.

Es handelt sich also um eine mentale Konstruktion, die mir das Gefühl für meine persönliche Identität gibt und als Bezugspunkt in meinen Beziehungen zu anderen Menschen dient. Ich kann an allem zweifeln, außer an der Tatsache, dass es jemanden gibt, der zweifelt, und ich dieser Jemand bin. „Ego cogito, ergo sum“. „Ich denke, also bin ich“ ist der Ausdruck dieser unmittelbaren Offensichtlichkeit, die es Descartes ermöglichte, seinen systematischen Zweifel zu überwinden.

Erwachen bedeutet weniger Anhaftung an das Ego...

Im Zen-Buddhismus wird die Natur dieser Offensichtlichkeit in Frage gestellt. Als der chinesische Mönch Nangaku Meister Eno (Hui-Neng) aufsuchte, fragte dieser ihn: „Was kommt da?“

Nangaku konnte nicht antworten. Er meditierte lange über diese Frage, die zu seinem Koan wurde. Nach sieben Jahren antwortete er schließlich: „Es ist nicht etwas“. Mit anderen Worten, es ist nichts Fassbares, nichts Begrenztes, nichts, das vom ganzen Universum getrennt ist.

Als der Mönch Eka den Patriarchen Bodhidharma aufsuchte, der in seiner Höhle in Shaolin Zazen praktizierte, fragte er ihn: „Meister, ich leide, mein Geist ist nicht in Frieden. Könnt ihr ihn befrieden?“ Bodhidharma antwortete: „Zeige mir deinen Geist, und ich werde ihn befrieden.“ Eka antwortete: „Ich habe nach meinem Geist gesucht, aber er ist nicht fassbar.“ „In diesem Fall ist er bereits befriedet“, antwortete Bodhidharma.

Mit anderen Worten, wenn du wirklich erkennst, dass dein Geist unfassbar, leer und ohne Substanz ist, dann wird die Wurzel deines Leidens durchtrennt, zusammen mit all deine Anhaftungen, die es verursachen. Genau wie damals, als Nangaku erkannte, dass sein Ego nicht fassbar ist. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass das Ego nicht unabhängig existiert. Es handelt sich um eine mentale Konstruktion, das Ergebnis voneinander abhängiger Ursachen, mit dem wir uns fälschlicherweise identifizieren. Diese Illusion ist wie eine Fata Morgana, das Ergebnis eines Wunsches, des Wunsches zu existieren. Und dieser Wunsch ist die Ursache unserer Existenz in dieser Welt.

... denn das Ego ist ohne Substanz.

Da wir - tief im Inneren - die Zerbrechlichkeit dieser Identifikation mit unserer Geschichte und unserer Persönlichkeit spüren, neigen wir dazu, unser Ego immer wieder zu bestärken. Und dies wird zur Ursache unserer vielen Wünsche, insbesondere des Wunsches nach Anerkennung und Erfolg, des Wunsches, der unsere Ambitionen verstärkt und damit unsere Ungeduld und Feindseligkeit gegenüber allem, was die Erfüllung unserer Wünsche stört. So sind Wünsche und Hass die beiden großen Gifte, verursacht durch unsere Ichbezogenheit, die auf unserer Unkenntnis der Realität unseres Lebens beruht.

Sich davon zu befreien erfordert ein tiefes Erwachen, was der Sinn von Zazen, der Meditationspraxis des Zen ist. So schreibt Meister Dogen im Shobogenzo Genjokoan: „Das Dharma Buddhas besteht darin, sich selbst kennenzulernen. Sich selbst kennenzulernen bedeutet, sich selbst zu vergessen, und sich selbst zu vergessen bedeutet, mit allen Existenzen zu erwachen“.

Schon der Buddha hat die Existenz des Egos nicht geleugnet, aber er leugnete, dass das Ego eine substanzielle, dauerhafte Existenz hat, und es unabhängig von den Ursachen und Bedingungen ist, die es unbeständig machen. Dies nicht zu verstehen und nicht zu akzeptieren ist die Ursache für dukkha, dem fundamentalen Leiden der Menschen, das Shakyamuni durch sein Erwachen gelöst hat. Von diesem Erwachen zur Existenz in völliger wechselseitiger Abhängigkeit mit allen anderen Existenzen ausgehend lehrte er den Weg der Befreiung in Form des Achtfachen Pfades. Dieser besteht aus einer Ethik, einer Praxis der Aufmerksamkeit und Konzentration, die es ermöglicht, Weisheit zu erlangen (was nichts anderes ist, als sich selbst tief zu verstehen und sich mit diesem Verständnis zu harmonisieren). Sie besteht darin, von der Anhaftung an unser kleines Ego und damit von den Ursachen unseres Leidens befreit zu werden. Befreit von der egozentrischen Enge können wir uns besser für andere öffnen, uns in ihre Lage versetzen und Mitgefühl und Wohlwollen für sie empfinden.

Die Umsetzung dieser Erkenntnis wird zum Sinn des Lebens für diejenigen, die diesem von Buddha übermittelten Weg folgen. Innere Freiheit und großzügige Liebe zu allen Lebewesen erlauben es uns, die Grundlage einer Lebensethik wiederzuentdecken, an der es in unserer heutigen Zeit oft mangelt, in der sich die Wesen oft nicht mehr damit zufriedengeben können, sich Regeln und Geboten zu unterwerfen, weil sie die Wahrheit selbst erfahren müssen (was der Buddha übrigens empfahl).

Auch wenn unser Ego uns auf die Spur bringen kann, wenn es die Ursachen seines Leidens erkennt, so bleibt es doch das Haupthindernis für die Befreiung. Nicht „ich“ bin es, der das Erwachen verwirklicht. Es ist die Praxis, die es verwirklicht, indem sie mich über mich selbst hinausführt und so der Buddha-Natur ermöglicht, sich unbewusst und natürlich zu realisieren. Dies setzt jedoch voraus, dass wir die Anhaftung an unser Ego loslassen können. Dabei dürfen wir keine Angst davor haben, ins Nichts zu versinken, denn das Ego aufzugeben bedeutet nicht, es zu verlieren, sondern über es hinauszugehen in Richtung auf ein authentischeres Leben in Harmonie mit unserer wahren Natur. Diese ist keine Substanz, sondern eine Seinsweise, die unsere wechselseitige Abhängigkeit mit allen Wesen aktualisiert.

So sind alle Begegnungen und Situationen, die wir im täglichen Leben erfahren, eine Gelegenheit, dieses Erwachen mit Freude und geteiltem Glück zu verwirklichen.

 

 

Tags: Roland Yuno Rech

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